2003


1. Jänner 2003:
Nach zweijährigem Schweigen meldet sich die EZLN wieder in der Öffentlichkeit. Mehr als 20.000 Indígenas und Campesinos besetzen mit einer Großdemonstration den völlig überfüllten Hauptplatz von San Cristóbal de las Casas, um die Botschaften der Comandantes Esther, David, Fidelia, Omar, Mister und Bruce Lee zu hören. "Wir kommen um ihnen zu sagen, dass wir hier sind und weiterhin leben. Wir haben uns nicht ergeben. Wir sind weder gespalten noch zerstritten", wenden sich die Comandantes gegen "die Lügen der schlechten Regierung". "Dieser Kampf hat kaum begonnen", sagt David in der letzten Ansprache der zapatistischen Comandantes: "Zünden wir ein großes Licht an, damit die Völker sehen, daß wir die Rebellion weiterführen."

Jänner 2003:
12 nationale und regionale Organisationen land- und forstwirtschaftlicher Produzenten schließen sich zur Bewegung "El Campo no aguanta más" (Mehr erträgt der ländliche Raum nicht) zusammen.

April 2003:
Lino Korrodi, der Mann, der sich um die Finanzierung der Wahlkampagnen von Vicente Fox kümmert, seit dieser Gouverneurskandidat für den Bundesstaat Guanajuato war, gibt zu, daß Fox die Präsidentschaftswahl ohne das für seine Wahlkampagne benutzte Schwarzgeld nicht gewonnen hätte.

Juli 2003:
Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus verlaufen einigermaßen regulär, der zapatistischen Aufruf zum Wahlboykott senkt die Wahlbeteiligung jedoch auf peinliche 40 % (in Chiapas sogar 30 %). Das nebensächliche Ergebnis: PAN 31%, PRI 34%, PRD 18%.

9. August 2003:
Mehr als 10.000 Zapatisten feiern in Oventik den "Tod der Aguascalientes und die Geburt der Caracoles" als Beginn einer neuen Strategie des Widerstandes und Ausweitung der Autonomie.
In den fünf "Caracoles" (dt.: Meeresschnecken), die jeweils sieben municipios umfassen, befinden sich die "juntas de buen gobierno" (dt.: Räte der Guten Regierung). Diese Räte werden durch je zwei "autoridades" (MandatsträgerInnen) der municipios gebildet. Ihre Aufgaben liegen darin, für die Einhaltung der revolutionären Gesetze der EZLN und ihrer Gemeinden zu sorgen, Streitigkeiten zu schlichten, den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu koordinieren und eine den eigenen Bedürfnissen entsprechende Verteilung der Hilfsprojekte zu erreichen.
Das Bild der Schnecke verdeutlicht die Bemühungen, eine autonome Selbstverwaltung des gehorchenden Regierens zu verwirklichen. Durch den Eingang in das Schneckenhaus, der die Tür zu einer kollektiven Entscheidungsfindung darstellt, und die Spirale des politischen Diskurses sollen alle Stimmen gehört werden, um schließlich im Zentrum zu einem Konsens zusammenzukommen. Umgekehrt werden getroffene Beschlüsse durch die Spirale des Schneckenhauses wieder in die Welt getragen.

die Reden der Comandantes
zur Geburt der Caracole

Zur gleichen Zeit moderiert Sup Marcos das erste auf Kurzwelle international gesendete Programm von "Radio Insurgente - die Stimme der EZLN" und verkündet das Ende seiner kurzzeitigen Sprecherrolle für die Räte der guten Regierung, deren Vertreter nun bei Bedarf selbst sprechen wuerden. Ebenso kündigt er die Auflösung aller EZLN-Strassenkontrollen in Chiapas an, eine Überprüfung von Fahrzeugen erfolge nur noch beim Verdacht auf Schmuggel von Drogen, Waffen oder Edelhölzern. Dieser Entschluß sei gefasst worden, weil jede gute Regierung, so Marcos, mit der Vernunft und nicht mit der Armee regieren sollte.
ausführlicher Text und erste Berichte

15. September 2003:
Die Gipfelkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún scheitert nach einer knappen Woche unter dem Jubel zehntausender Demonstranten. Zum ersten Mal präsentieren sich die VertreterInnen der "Entwicklungsländer" selbstbewußt und fordern die Berücksichtigung ihrer Interessen.
kommentar

12. Oktober 2003:
VertrerInnen der Zivilgesellschaft präsentieren das Ergebnis einer Volksbefragung, an der über 100.000 Menschen mit 99 % gegen die Freihandelsabkommen NAFTA, ALCA und den Plan Puebla Panamá aussprachen.
ausführlicher Text

16. Oktober 2003:
Bartolome Salas, Mitglied des "Indigenen Volksrates von Oaxaca – Ricardo Flores Magón" (CIPO-RFM), wird während eines Überfalls von etwa 50 Paramilitärs auf die Gemeindeversammlung des kleinen Ortes Santa María Yavinche getötet, neun weitere Personen durch Schüsse verletzt. Die Angreifer erhielten laut CIPO finanzielle und logistische Unterstützung durch Jose Murat, den Gouverneur von Oaxaca, trugen Armeeuniformen und benutzten Waffen, "die exklusiv der Armee vorbehalten sind". Kurz vor dem Angriff erst hatte der CIPO-RFM in Santa María Yavinche seine politische Autonomie von staatlichen Strukturen erklärt, "um unsere Erde zu verteidigen und gegen die Megaprojekte des Plan Puebla Panama und der Freihandelszone ALCA zu kämpfen".
Der Angriff Mitte des Monats war kein Einzelfall. Am 5. Oktober wurde Estela Ambrosio Luna von der "Koordination der Kaffeeproduzenten von Oaxaca" (CEPCO) mit vier Schüssen getötet. Am 17. August hatten "unbekannte Täter" den Rechtsanwalt Carlos Sanchez, Führungspersönlichkeit der lokalen "Arbeiter-, Bauern und Studentenkoalition" (COCEI) brutal erschlagen.
"Überall dort, wo sich die Bevölkerung demokratisch und basisbezogen organisiert, antworten die lokalen und überregionalen Eliten mit der Gründung paramilitärischer Gruppen, um ihre ökonomischen und politischen Interessen zu sichern", beklagte der Aktivist und ehemalige politische Gefangene Juan Sosa. Die PRI-Regierung unter Murat, der sich öffentlich gerne als "Freund der Indígenas" präsentiert, spiele ein doppeltes Spiel, "denn sie steht in unmittelbarer Verbindung mit der paramilitärischen Gewalt". Sosa, selber Folteropfer, beklagte, daß Polizei und Militaer soziale Aktivisten oft festnehmen, um unter Gewaltanwendung Geständnisse unterzeichnen lassen. Aufgrund dieser Dokumente würden die Menschen dann unschuldig und für lange Zeit inhaftiert.120 Menschen bereisten als Vertreter von mehr als 20 sozialen Organisationen Ende November mehrere Regionen des Staates in einer Protestkarawane, um der Gewalt, Repression und Straflosigkeit in Oaxaca zu begegnen.