2010

21. Jänner 2010:
Die Regierung überfällt die Gemeinde Laguna El Suspiro im Bezirk Ocosingo, vertreibt die BewohnerInnen und brennt deren Häuser nieder, um Platz für ein "Biosphärenreservat" zu schaffen. Etwa 60 Polizeibeamte, zum Teil in schwarzen Uniformen und Tarnanzügen, landen mit Hubschraubern im Dorf und beginnen ohne jede Erklärung mit der gewaltsamen Räumung.
María Cortes Pérez und Magdalena García Cortes werden aus ihren Häusern gezerrt und gewaltsam in die Bezirkshauptstadt Palenque gebracht. Andere Frauen entkamen in den Urwald.

22. Jänner 2010:
250 Polizeibeamte überfallen die Gemeinde Laguna San Pedro, ebenfalls im Bezirk Ocosingo und zum Gebiet der Montes Azules gehörig. Sie informieren die Bevölkerung, daß die Aktion von staatlicher Seite angeordnet wäre . Zwölf Personen, darunter Kinder, Frauen und Männer, werden im Hubschrauber abtransportiert und der Staatsanwaltschaft in Palenque vorgeführt.
Regierungsfreundlichen Quellen zufolge handelt es sich um eine koordinierte Aktion verschiedener Institutionen, darunter eine polizeiliche Spezialeinheit der Generalstaatsanwaltschaft von Chiapas, die Behörde für öffentliche Sicherheit, die Generalstaatsanwaltschaft der Republik, die Bundesstaatsanwaltschaft für Umweltschutz, die Nationale Kommission für Naturschutzgebiete, sowie staatliche MenschenrechtsvertreterInnen. In einer Pressekonferenz erklären VertreterInnen der Umweltbehörden des Staates Mexiko und des Landes Chiapas, sie würden einen Plan zur Erschließung touristischer Ziele auf der Mayaroute voran treiben. Das Projekt solle die für Ökotourismus ausgewiesenen Ortschaften einschließen und verstehe sich als eine Strategie zum Erhalt und zur Entwicklung des lakandonischen Regenwaldes. Darüber hinaus nannten sie die Namen von weiteren sieben Gemeinden, die so bald wie möglich geraumt werden würden.

5. - 7. Februar 2010:
Über 200 Menschen treffen sich auf Einladung der Deutschen Menschenrechtskoordination in Berlin und fordern die demokratische Kontrolle der Sicherheitskräfte und ein Ende der Repression gegen soziale Bewegungen.

Bericht von der Konferenz

6. Februar 2010:
Paramilitärs der OPDDIC überfallen Bolon Ajaw, schießen wild um sich und verwüsten die Kirche.

18. Februar 2010:
Juan Manuel verlässt nach sechzehn Monaten Haft endlich das Gefängnis von Ixcotel, Oaxaca Stadt. Der APPO-Aktivist und dreifache Familienvater war absurderweise beschuldigt worden, für den Mord am Indymedia-Aktivisten Brad Will aus den USA verantwortlich zu sein, der von regierungsnahen Paramilitärs an einer APPO-Barrikade erschossen wurde. Staatsanwaltschaft und Richterin beklagten sich über die nicht nachlassende Masse an Protestbriefen als Zeichen der Mobilisierung auf nationaler und internationaler Ebene. Juan Manuel wird bei seiner Freilassung von über 1000 jubelnden AktivistInnen begrüßt. Die wahren Mörder bleiben unbehelligt.

Juan Manuel: In Freiheit, aber bedroht

26. Februar 2010:
Elf Friedensnobelpreisträger verlangen die Freilassung von zwölf zu 30 Jahren Haft verurteilten Dorfbewohnern aus San Salvador Atenco. Die Verurteilungen der politischen Gefangenen müssten zurückgenommen und die Haftbefehle für null und nichtig erklärt werden. Notwendig seien außerdem ernsthafte Ermittlungen zu den Vergewaltigungsvorwürfen von 50 Frauen gegen an dem Einsatz beteiligte Polizisten. Unter den Unterzeichnern des Briefs sind mit Erzbischof Desmond Tutu und dem früheren Präsidenten Frederik Willem de Klerk zwei Friedensnobelpreisträger aus Südafrika, ferner die guatemaltekische Menschenrechtskämpferin Rigoberta Menchú, der US-Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel sowie die kenianische Umweltaktivistin Wangari Maathai.

28. Februar 2010:
Nach dem illegalen Fällen mehrer Bäume durch Paramilitärs kommt es in der Gemeinde Mitziton zu Übergriffen auf die zapatistischen Autoritäten, die die Täter zur Rede stellen. Mehrere Personen werden durch Schüsse und Schläge zum Teil schwer verletzt, während die Polizei tatenlos zusieht. Andere werden entführt, gefoltert und mit dem Tod bedroht. Erst nachdem die Zapatistas ihrerseits Elemente der Staatlichen Polizei und Angehörige der Paramilitärs festnehmen, werden die Entführten freigelassen.

16. März 2010:
Hunderttausende Menschen folgen dem Aufruf der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft SME zu einem "landesweiten politischen Streiktag". Die Polizei in Mexiko Stadt greift die Streikenden mehrfach und mit Tränengas an, in Oaxaca blockieren 70.000 Menschen wichtige Straßen, Regierungsgebäude und Niederlassungen multinationaler Konzerne und legen so das öffentliche Leben im Bundesstaat nahezu lahm.

27. April 2010:
Eine Friedenskarawane, bestehend aus 40 Menschen aus sozialen und Menschenrechtsorganisationen, gerät im Ort La Sabana in einen Hinterhalt von Paramilitärs. Die Angaben über die Konsequenzen der bewaffneten Attacke sind noch nicht vollständig bestätigt, mehrere Personen gelten als verschwunden, doch mit Sicherheit wurden Beatriz Cariño, die Direktorin der sozialen Organisation CACTUS (Centro de Apoyo Comunitario Trabajando Unidos) mit Sitz in Huajuapán de León, und Juri Jaakkola, finnischer Menschenrechtsbeobachter, im Kugelhagel getötet. Eine Verletzte konnte ins Spital eingeliefert werden, es ist dies Mónica Citlalli Santiago Ortiz, eine 22-jährige Reporterin der Fernsehstation Televisa. Unter den Verschwundenen sind internationale BeobachterInnen sowie AktivistInnen aus Oaxaca und die beiden Reporter Érika Ramírez und David Cilia der Zeitschrift "Contralínea".
Seit dem 1. Januar 2007 hat die autonome Organisation MULT-I, die in Folge des Aufstands von 2006 entstand und sowohl der APPO als auch der "anderen Kampagne" der Zapatistas angehört, das Dorf San Juan Copala zum autonomen Bezirk erklärt. Die Region ist seit Jahrzehnten Hochburg der PRI, welche mit aller Gewalt die Kontrolle behalten will. Seit Jahresbeginn gab es Dutzende politische Morde. Gemäss Jorge Albino Ortiz, dem Sprecher des autonomen Bezirks, ist San Juan Copala seit Monaten im Würgegriff der Paramilitärs von UBISORT, einer Organisation der PRI. Diese haben Strom und Wasserzufuhr abgestellt. Auch sind seit Januar weder LehrerInnen noch medizinisches Personal mehr im Dorf, "und wenn die Frauen auf der Suche nach Wasser und Essen sich getrauen, die Häuser zu verlassen, werden sie bedroht".

längerer Bericht

6. Juni 2010:
Der Oberste Gerichtshof Mexikos ordnet die sofortige Freilassung von zwölf inhaftierten Aktivisten der "Gemeindefront zur Verteidigung der Erde" (FPDT) an.
Den Aktivisten wurde im Mai 2006 die Entführung von Staatsfunktionären vorgeworfen und ein Gericht des Bundesstaates Mexikos, der an die Hauptstadt grenzt, hatte die Betroffenen zu hohen Haftstrafen verurteilt. Besonders überraschend ist daher die Freilassung von Ignacio del Valle, der als mutmaßlicher "Rädelsführer" zu 112 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, die übrigen zu Strafen zwischen 30 und 67 Jahren. Das Oberste Gericht erklärt die damaligen Vorwürfe nun für unangemessen, da illegale Beweise für Delikte vorgebracht worden seien, die die Angeschuldigten nicht begangen hatten. Die Angehörigen reagieren erleichtert, bleiben aber skeptisch.

8. Juni 2010:
Laut dem Jahresbericht des Stockholmer Institutes für Friedensforschung (SIPRI) hat Venezuela seine Militärausgaben im Jahre 2009 um gut 25 Prozent und damit im lateinamerikanischen Vergleich am stärksten reduziert. Brasilien erhöhte mit einem Gesamtvolumen von 27,1 Milliarden US-Dollar die Militärausgaben um 16 Prozent. In Relation zum Bruttosozialprodukt liegt Kolumbien mit 3,7 Prozent und einem Zuwachs von elf Prozent an der Spitze. Der amerikanische Doppelkontinent wies vor allem aufgrund der USA mit enormen 661 Milliarden US-Dollar rund 43 Prozent des weltweiten Gesamtvolumens die höchsten Rüstungsausgaben für 2009 auf.
Dessen ungeachtet äussert sich der Staatssekretär im US-Außenministerium, Arturo Valenzuela, "besorgt, ob des aggressiven Diskurses und Rüstungswettlaufs seitens der venezolanischen Regierung". Etwaige "Kriegsgefahren oder Einmischungen von Ländern, die möglicherweise Unterstützer für terroristische Gruppierungen sind, können von uns nicht toleriert werden", so Valenzuela in einem Universitätshörsaal in Kolumbien, dem Land also, das insgesamt sieben Militärstützpunkte Washingtons beherbergt. Letzteres aufgrund eines Abkommens, das von vielen regionalen Akteuren als Verletzung der nationalen Souveränität Kolumbiens erachtet wird.

19. Juni 2010:
Bei einem Zusammenstoß zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der kanadischen Goldmine Fortuna Silver/Cuscatlán in San José del Progreso, Oaxaca werden zwei Personen erschossen und mehrere Menschen verletzt. Zwei Stunden nach dem Vorfall wird der Befreiungstheologe Martín Octavio Ortiz, der in der Vergangenheit mit den MinengegnerInnen zusammengearbeitet hatte, auf dem Weg ins Dorf gekidnappt, brutal geschlagen, dabei am Kopf verletzt und bis in die Nacht gefangen gehalten. Als die Staatspolizei mit einem Aufgebot von 30 Fahrzeugen und Spürhunden kommt, wird Padre Martín gefunden, aber nicht befreit, sondern zusammen mit neun weiteren Minengegnern festgenommen und nach Oaxaca gebracht.

5. August 2010:
Wachovia, die sechstgrößte US-Handelsbank, hat von 2004 bis 2007 bei der Entgegennahme von $378.4 Mrd. Aus mexikanischen Wechselstuben systematisch und wissentlich Gelder von mexikanischen Drogenkartellen gewaschen und damit nicht zuletzt gegen das Gesetz über Geldwäscherei verstoßen. "Eine große Bank anzuklagen, könnte [...] eine Panik in den Finanzmärkten auslösen", meint Jack Blum, während 14 Jahren ein Ermittler des Senats.
Die in Ungnade gefallene Wall-Street-Bankerin Catherine Austin Fitts beschrieb bereits 2002, dass die US-Börsen ohne Einbezug der Drogengelder crashen würden. Antonio Maria Costa, Chef des UN-Office on Drugs and Crime, meint: "In vielen Fällen waren Drogengelder das einzige liquide Investitionskapital. In der zweiten Hälfte 2008 war Liquidität das Hauptproblem des Bankensektors und deshalb wurde Liquidität zu einem wichtigen Faktor [...] Inter-Bank-Kredite wurden mit Geldern aus dem Drogenhandel und anderen illegalen Aktivitäten finanziert [...] Es gab Anzeichen, dass einige Banken so gerettet wurden".
Die Stoßrichtung der US-Ermittlungen ist klar: gegen Exponenten der mexikanischen Kartelle, Weißwaschen der US-Banken. Wachovia/Wells Fargo kam mit einer bequem bezahlbaren Buße und einem Versprechen, sich zu bessern, davon. Wie, so Bloomberg, zuvor alle anderen systemrelevanten Banken, die Drogengelder gewaschen haben.

8. August 2010:
Das Mexiko Solidarity Network in Chicago ) in "Mexico News and Analysis" vergleicht die Mordstatistik in den USA mit jener aus Mexiko. Entgegen dem von den Medien gezeichneten Bild ist es - trotz des Drogenkrieges - in Mexiko insgesamt nach wie vor weniger lebensgefährlich als in den USA. Die nachstehenden Zahlen repräsentieren Morde pro 100.000 Einwohner und sprechen für sich: Die nationale mexikanische Mordrate lag 2009 bei 14.Besonders sschlimm ist es in den "Drogen-Bundestaaten" wie Chihuahua (74), Durango (60), Sinaloa (47), und im Opium produzierenden Guerrero (46); vergleichsweise niedrig ist die Zahl in Chiapas (10), Mexiko-Stadt (8), Puebla (7), Veracruz (5) und Tlaxcala (4).
Zum Vergleich die Statistik wichtiger Städte in den USA: Baltimore (37), Washington DC (31), Kansas City (25), Philadelphia (23), Memphis und Atlanta (20), Chicago (18) und Indianapolis (14).

9. September 2010:
In Chilón werden 170 Zapatistas (Familien aus San Marcos Avilés und Pamala) mit Waffengewalt vertrieben, weil sie eine autonome Schule für ihre Kinder gründeten. Ihre Nachbarn, die in verschiedenen politischen Parteien organisiert sind, besetzen daraufhin ihr Land. Der Rat der Guten Regierung von Oventik denunziert die gewaltsame Vertreibung und unterstützt die Vertriebenen.

22. Oktober 2010:
Catarino Torres Pereda wird in der Stadt Tuxtepec im Norden des mexikanischen Bundesstaates Oaxacas von zwei mit Pistolen bewaffneten Männern im Büro der indigenen Organisation CODECI (Komitee zur Bürgerverteidigung) niedergeschossen. Die Angreifer trugen T-Shirts mit Wahlpropaganda für Eviel Pérez Magaña, dem unterlegenen Gouverneurskandidaten der ehemaligen Staatspartei PRI.
Catarino Torres war in den letzten zehn Jahren aufgrund seines Engagements für die indigenen Gemeinden der Region Cuenca de Papaloapán starker Repression ausgesetzt, ein Dutzend Mal war er in Haft. Als Anhänger der zapatistischen Bewegung und Aktivist der oppositionellen Organisation APPO wurde er letztmals Anfang August 2006 verhaftet, gefoltert und sieben Monate in ein Hochsicherheitsgefängnis gesperrt.
In einer seiner letzten öffentlichen Reden kritisierte Catarino Torres die Oppositionsparteien von links und rechts dafür, dass sie sich mit dem Wahlsieg vom Juli brüsteten. Es sei offensichtlich, dass erst der Aufstand von 2006 den Machtwechsel im Staat ermöglicht habe. Nach dem Tod von Catarino Torres fühlen sich Aktivisten der CODECI in der Befürchtung bestätigt, dass die Regierung des scheidenden Gouverneurs Ulises Ruiz die lange Übergangszeit bis zur Regierungsübergabe am 1. Dezember dazu nutzt, mit politischen Widersachern abzurechnen.

24. November 2010:
Die Menschenrechtsverteidigerin Margarita Guadalupe Martínez Martinez wird von zwei nicht identifizierten Personen, unterwegs mit einem weißen Pickup ohne Nummernschilder, auf offener Straße abgefangen und bedroht: "Hör gut zu, was ich dir sage, denn du steckst ganz schön in der Scheiße."
Margarita wird gezwungen, zum Friedhof zu laufen, wo sie ein Papier zugesteckt bekommt, das sie zum Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) bringen soll: "Und sag Diego [Diego Cadenas, Direktor von Frayba], dass wir wissen, dass ihr mit subversiven Gruppen zusammenarbeitet, dass wir euch genau identifiziert haben und dass wir euch einen nach dem anderen fertig machen, weil ihr verdammte Scheißarschlöcher seid, die nur den Staat destabilisieren!"
Außerdem fügt er hinzu: "Nicht nur wir überwachen dich, sondern noch viele mehr. Mach, was wir sagen oder du fängst dir drei Schüsse ein".