Die Zivilgesellschaft als Protagonist bei der Suche nach einer besseren Gesellschaft


Auszüge eines Interviews, das Hermann Bellinghausen zur (damals) bevorstehenden Consulta mit Subcomandante Insurgente Marcos führte.


Wir appellieren an alle Menschen, die nicht zu einer der beiden Seiten gehören, die nicht pro-Zapatista oder regierungsloyal sind und die gesagt haben: "Wir wollen diesen Konflikt nicht durch Gewalt gelöst haben, wir wollen Dialog".
Seitdem haben wir auf Initiativen bestanden, die Dialogmöglichkeiten schaffen. Wenn die Regierung nicht am anderen Ende des Tisches sitzen will, oder dort in betrügerischer Absicht sitzt und gleichzeitig eine Militäroffensive durchführt, wie zur Zeit mit Hilfe der Paramilitärs, laden wir andere Leute ein, damit die große Masse der Zivilbevölkerung sich formiert, entscheidet und letztendlich zu dem Gewicht wird, das die Waagschale zu Gunsten eines dauerhaften Friedens ausschlagen läßt.

Diese politische Initiative des Zapatismo stimmt mit dem überein, was in einer Formulierung zusammengefaßt werden kann, die wie ein Slogan klingt, aber eine politische Ethik beschreibt: Regieren durch gehorchen. Wir sagen, daß die Leute von unten, die Regierten, die primäre Rolle in allen politischen Prozessen und Regierungsaktivitäten haben sollten. Wir richten uns nicht an jene, die die Gesetze schreiben oder jene, die sagen, was gemacht werden muß, d.h. an die Regierung. Diejenigen, die dies tun sollten, und das ist die Basis der Demokratie, sind das Volk, die Zivilgesellschaft oder wie immer man sie bezeichnen mag. Es sind die Menschen, denen Stimme und Meinung mit Gewicht verliehen werden muß. Eine Methode, das Gewicht der Meinung zu messen, ist die Volksabstimmung.

Die Herausnahme des Konflikts aus Chiapas, weg von den zwei Opponenten, die eine Lösung wollen oder nicht wollen, die ehrlich sein mögen oder nicht, wird in außerordentlicher Weise helfen, den Konflikt zu mildern. Wir sagen, wir seien ehrlich und die Regierung ist doppelzüngig, sie behauptet das Umgekehrte. Deshalb soll der Disput aus seinem Umfeld herausgenommen und in die Gesellschaft getragen werden. Diese soll entscheiden, ob sie Krieg oder Frieden will und welche Art Frieden. Wir behaupten nicht, daß die Consulta den Konflikt beenden wird, sondern daß die Forderungen, die dem Konflikt innewohnen, gelöst werden müssen, was sogar die Regierung anerkennt.

Die Menschen werden direkt von den Zapatistas hören, aus erster Hand. Das ist der Weg zu erfahren, was sie denken, und zur gleichen Zeit werden die Zapatistas erfahren, was die anderen Menschen über ihre Probleme denken.

In diesem Sinn ist die Consulta schon jetzt ein Erfolg. Wie haben erreicht, was wir wollten, und zwar nicht für uns. Wieviel Einfluß haben wir von der Selva Lacandona aus? Wir haben ihn, weil die Zivilgesellschaft ein Gedächtnis hat und weiß, was die letzten fünf Jahre für die Geschichte des Landes bedeutet haben, und weil sie weiß, was zur Entstehung der EZLN geführt hat.
Bis jetzt waren die Ergebnisse (der Mobilisierung für die Consulta) ein Maß dafür, daß die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit gegenüber dem Konflikt in Chiapas sensibel geblieben sind, gegenüber der Möglichkeit eines Krieges und gegenüber der Schuld, die bezüglich der Anerkennung der Rechte der indigenen Völker fortbesteht.

Das Volk organisiert sich immer besser und in kürzerer Zeit. Die Zivilgesellschaft hat sich seit dem Krieg von 1994 weiterentwickelt. Der Sektor der Gesellschaft, der keiner Partei angehört, und an den sich die EZLN wendet, ist gewachsen und hat seinen Radius erweitert. Sein Horizont erweitert sich kontinuierlich. Keiner kann mehr sagen, daß das, was sich da entwickelt, eine Modeerscheinung oder ein Produkt der Romantik ist.