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Der Turm zu Babel:
Zwischen Maske und Hinterzimmer
März 2003
I. Das 21. Jahrhundert
Das neue Jahrhundert verkündet erneut die Berufung
seines Vorgängers: Die Ziele der Politik liegen in der Unterwerfung
oder im Ausschluß des anderen. Was ist neu daran? Wie zuvor bedient
man sich des Kriegs, der Lüge, der Täuschung, des Todes. Die
Macht wiederholt die Geschichte und versucht, uns davon zu überzeugen,
daß die Seiten diesmal in schönen Buchstaben geschrieben werden.
Das Projekt der neoliberalen Welt ist nichts anderes als eine Wiederauflage
des babylonischen Turms. Nach der Erzählung der Genesis beschlossen
die Menschen in ihrem hartnäckigen Bemühen, immer höher
zu kommen, ein ungeheuerliches Unterfangen: den Bau eines Turms, der bis
zum Himmel reichen sollte. Der Gott der Christen bestrafte diese Überheblichkeit
mit der Vielfalt. Durch die unterschiedlichen Sprachen konnten die Menschen
nicht mehr weiterbauen und zerstreuten sich.
Der Neoliberalismus plant das selbe Gebäude, aber nicht im Streben
nach einem unwahrscheinlichen Himmel, sondern um sich mit einem Schlag
von der Vielfalt zu befreien, die er als Fluch empfindet, und um seine
Macht auf ewige Zeiten zu sichern.
Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit taucht schon zu Beginn der Geschichtsschreibung
der Mächtigen auf. Aber der neoliberale Turm zu Babel begnügt
sich nicht damit, die für seinen Bau erforderliche Homogenität
zu schaffen. Die Gleichheit, die die Vielfalt zerstört, bedeutet
die Gleichheit mit einem Modell. "Laßt uns diesem gleich sein!",
sagt uns die neue Religion des Geldes. Die Menschen erfahren nicht die
Einheit mit sich selbst oder mit anderen, sondern mit einem Schema, das
von denen eingesetzt wird, die die Gleichheit schaffen, die die Befehle
geben, die sich an der Spitze dieses Turms befinden, der die moderne Welt
ist.
Darunter sind die Verschiedenen. Die einzige Gleichheit, die es in den
unteren Stockwerken gibt, ist, darauf zu verzichten, verschieden zu sein
oder sich dafür zu entscheiden, es auf sehr beschämende Weise
zu sein.
Der neue Gott des Geldes wiederholt den ursprünglichen Fluch, aber
umgekehrt: verflucht wird das Verschiedene, das Andere. Im Boom der Gewinne
der transnationalen Konzerne wuchern Gefängnisse und Friedhöfe.
Im neuen babylonischen Turm ist die Aufgabe des Volkes die Verehrung der
Mächtigen. Der Mangel an Vernunft wird dabei durch ein Übermaß
an Gewalt ausgeglichen. Der Befehl lautet, daß sich sämtliche
Farben hinter einer Maske zu verstecken haben und nur die stumpfe Farbe
des Geldes zeigen. Buntheit ist nur in beschämender Verborgenheit
gestattet. Maskierung oder Hinterzimmer.
Das gleiche gilt für Homosexuelle, Lesben, Migranten, Muslime, Indigene,
"Farbige", Männer, Frauen, Junge, Alte, Unangepaßte
und all die anderen Namen, die diese Anderen überall auf der Welt
tragen.
Dies ist das Projekt der Globalisierung: aus dem Planeten einen neuen
Turm zu Babel zu machen. In jeder Beziehung. Einheitlich in seiner Form
des Denkens, seiner Kultur, seinem Beschützer. Vereinheitlicht durch
jene die keine Vernunft, aber dafür die Gewalt besitzen.
Wenn beim prähistorischen Turm zu Babel die Einstimmigkeit durch
die gemeinsame Sprache möglich war, so wird der Konsens in Zeiten
des Neoliberalismus durch Argumente der Gewalt, der Drohungen, der Übergriffe
und des Krieges erreicht.
Davon ausgehend, daß wir auf dieser Welt zwangsläufig in Angrenzung
an die Vielfalt leben, bleibt uns nur die Wahl entweder zu herrschen oder
beherrscht zu werden. Für die erste Möglichkeit sind die Plätze
besetzt, und die Mitgliedschaft ist erblich. Auf der anderen Seite gibt
es immer genug Platz, um unterdrückt zu werden, und alles, was man
dazu braucht, ist sich vom Unterschied loszusagen oder ihn zu verstecken.
Für jene, die im Turm leben und sich nicht an der Spitze befinden,
gibt es Regeln, den "Unangepaßten" zu begegnen: Verbannung
oder Gleichgültigkeit, Zynismus oder Scheinheiligkeit.
Die Gesetze des neoliberalen Turms verbieten die Anerkennung der Unterschiede.
Ihre Unterwerfung ist die einzige erlaubte Möglichkeit.
In der Ära der Moderne ist der Nationalstaat wie ein Haus aus Spielkarten
im Angesicht des neoliberalen Windes. Die lokalen Politiker wähnen
sich souverän in ihren Entscheidungen bezüglich der Form und
Höhe des Bauwerks, doch die wirtschaftliche Macht hat längst
aufgehört, sich für dieses Spiel zu interessieren und läßt
den lokalen Politikern und ihren Gefolgsleuten den Spaß
mit
einem Blatt, das ihnen nicht gehört.
Hinter all dem ist das einzige Bauwerk, das sie interessiert, der neue
babylonische Turm, und solange ihnen die für die Konstruktion notwendigen
Rohstoffe (d.h. zerstörte und durch den Tod wieder bevölkerte
Gebiete) nicht ausgehen, können die Vorarbeiter und Kommissare der
nationalen Politik mit ihrem Schauspiel (mit Sicherheit das teuerste und
sinnloseste) ruhig fortfahren.
Die Architektur des neuen Turms ist der Krieg gegen die Vielfalt, seine
Bausteine sind unsere Knochen und der Mörtel unser Blut. Der große
Mörder versteckt sich hinter dem großen Architekten (der sich
nur deswegen nicht "Gott" nennt, um sich nicht mit falscher
Bescheidenheit zu beschmutzen).
In der biblischen Erzählung bestraft der christliche Gott die Überheblichkeit
des Menschen mit der Vielfalt. In der modernen Geschichte der Macht ist
Gott nichts weiter als der Pressesprecher des Kriegs (der sich nur aufgrund
der Zahl der Toten und das Ausmaß der Zerstörung pro Minute
modern nennen kann).
II. Die Geographie der Worte
Ob die Urgeschichte vor drei Jahren oder 20 Jahrhunderten
zu Ende ging, scheint keinen Unterschied zu machen. Dort oben bestehen
jene, die die Macht und das Schicksal sind, hartnäckig darauf, uns
davon zu überzeugen, daß die Geschichte sich wiederholt, auch
wenn die Kalender etwas anderes sagen. Die Vernichtung des Anderen ist
zu jeder Zeit modern. Von ihrer Erscheinungsform abgesehen gibt es keinen
Unterschied zwischen den Katapulten des römischen Imperiums und den
"intelligenten Bomben" von Bush. Der technologische Fortschritt
funktioniert heute als neuer Kaplan der Besatzungstruppen (freundliche
Farbe für das, was auch in der Entfernung noch immer ein Verbrechen
ist) und als spektakulärer Bühnenbildner (die Bombardements
verwandeln sich im Fernsehen zu Unterhaltung durch ein "faszinierendes"
Feuerwerk - CNN im Originalton - ).
Egal ob wir es bemerken oder nicht, die Macht konstruiert eine neue Geographie
der Worte und setzt sie durch. Die Namen sind die gleichen, aber das Benannte
hat sich verändert. So wird der Irrtum zur politischen Doktrin und
Geschick zur Ketzerei. Das Unterschiedliche wird zum Gegensätzlichen,
das Andere zum Feind. Demokratie ist die Einstimmigkeit im Gehorsam. Freiheit
ist nichts anderes als die Freiheit zu wählen, wie wir unsere Unterschiede
verstecken. Friede ist untätige Unterwerfung. Und Krieg ist heute
eine pädagogische Methode, um Geographie zu lehren.
Wo die Vernunft fehlt, wuchert das Dogma. Das Dogma gibt der Ursache zunächst
Rückendeckung, dann verzerrt es sie und schließlich macht es
sie zu Schicksal.
Im Fernrohr der Macht ist der Horizont stets gleich, unveränderlich
und ewig. Die Brille der Macht ist ein Spiegel. Das Andere ist stets unerwartet,
und dem Unerwarteten begegnet man mit Furcht. Furcht verhärtet sich
im Dogma, um das Unerwartete zu zertreten.
Im Fernrohr der Macht ist die Welt eben, verwaschen und schmutzig. Wenn
man sich eines Staatsmanns nicht wegen seines humanitären Werks erinnern
kann, dann wenigstens aufgrund seiner Verbrechen. Und so wiederholt sich
die Geschichte der Macht: Die "Berühmtheiten" von gestern
blicken heute auf all ihre Schandtaten. Die "von Gott Erleuchteten"
sind die Ketzer von morgen.
Wörter und Bilder verändern sich. Früher, in der Geographie
der Statuen, wurde das Dogma zu Stein, um seine Anhänger zu ehren.
Heute finden wir es in den Schlagzeilen der Zeitungen und Illustrierten,
in den Nachrichten in Funk und Fernsehen. Das Dogma erinnert sich seiner
selbst in den Zeitungsarchiven und ist sich sicher, als Alibi zu dienen
für jene, die die Alpträume der Fundamentalisten weiterführen.
In der modernen Theorie des Staates werden die Menschen voller Unterschiede
geboren. Ihre Einbindung in die Gesellschaft besteht aus einem Lernprozeß
der den grausamsten Reformator vor Neid erblassen lassen würde. Der
gesamte Staatsapparat zielt darauf ab, dieses menschliche Wesen zu "begleichen",
mit anderen Worten, es der Einheit dessen, der befiehlt, zu unterwerfen.
Die Stufe des sozialen Erfolgs mißt sich demnach daran, wie weit
man sich einem bestimmten Modell entfernt oder annähert. Die Vereinheitlichung
bedeutet nicht, daß wir alle gleich wären, sondern daß
wir alle uns bemühen, diesem Modell gleich zu werden. Wie dieses
Modell aussieht, bestimmen die Mächtigen.
Vereinheitlichung besteht nicht nur darin, daß einer befiehlt, sondern
daß wir alle uns bemühen, ihm zu gehorchen. Darin besteht die
Gleichheit, nicht im gleichen Besitz von Reichtümern (ganz zu schweigen
davon, daß einige wenige diese auf Kosten vieler anderer besitzen),
nicht in gleichen Möglichkeiten, sondern darin, daß wir die
gleiche Liebe, den gleichen Willen zeigen, ihr zu gehorchen (was nichts
anderes heißt, als ihr zu "dienen").
Wenn uns der Vergleich zwischen Gesellschaft und Familie lehren soll,
daß es notwendig ist, gewisse Regeln des Zusammenlebens aufzustellen,
wird darauf "vergessen", daß es diese festgelegten Regeln
sind, die das Problem darstellen. Die Worte haben ihre Geographie geändert
und bedeuten nicht mehr, was sie einst bedeuteten, sondern genau das,
was den Mächtigen gerade paßt.
Irgendwann in der modernen Geschichte hat das Gesetz das Recht verdrängt,
und wenn die oben heute das Gesetze verletzen, so wird es eben angepaßt.
Wird das Gesetz durch jene verletzt, die unten sind, so schlägt es
zu mit voller Wucht und bestraft die Nichteinhaltung.
III. Die Geographie der Macht
In der Geographie der Macht wird man nicht an einem bestimmten
Ort der Welt geboren, sondern mit oder ohne Möglichkeiten, jeden
erdenkbaren Punkt des Planeten zu unterwerfen. Wenn die Überlegenheit
früher über die Rassenzugehörigkeit begründet wurde,
geschieht es heute über die Geographie. Jene, die im Norden leben,
befinden sich nicht im geographischen, sondern im sozialen Norden: Sie
sind oben. Und jene, die im Süden leben, sind unten. Die Geographie
ist einfacher geworden: es gibt oben, und es gibt unten.
Oben ist der Raum beschränkt und umfaßt nur einige Auserwählte.
Unten ist er so weit, daß er jeden Punkt des Planeten erreicht und
der gesamten Menschheit Platz bietet. Im modernen Turm zu Babel wird eine
Gesellschaft dadurch überlegen, daß sie andere erobert, nicht
dadurch, daß sie eine höher entwickelte Wissenschaft, Kultur,
Kunstwerke, bessere Lebensbedingungen oder ein freundlicheres Zusammenleben
entwickelt hätte.
In der Moderne führen die Mächtigen zahlreiche Eroberungskriege.
Mit "zahlreich" meine ich nicht "viele", sondern "an
vielen Orten und auf verschiedenste Arten". So sind die Weltkriege
von heute viel umfassender als jemals zuvor. Natürlich gibt es nach
wie vor nur einen Sieger, aber die Besiegten sind viele und befinden sich
an vielen verschiedenen Orten.
Mit den Bomben als Argument werden die Plätze vergeben: Jene, die
sie abwerfen, sind im Norden, oben im Turm. Jene, die sie erhalten, sind
unten, im Süden. Aber nicht die Bomben verändern die Geographie.
Die Bomben bestimmen lediglich die geographische Verteilung, das Herrschaftsgebiet.
In diesem durch Punkte und Striche begrenzten Raum herrscht heute jener,
morgen ein anderer. Das nennt sich "Geopolitik".
In Wirklichkeit signalisieren die Landkarten keine Rohstoffe, Menschen,
Kulturen oder Geschichten, sondern deren Herrscher. Für den Mächtigen
ist die gesamte Menschheit wie ein kleines Kind, das entweder fügsam
sein kann oder rebellisch.
Die Bomben erinnern das menschliche Kind daran, wie angenehm es ist, das
eine zu sein, und wie unangenehm das andere. Die Zivilbevölkerung
im Irak, Männer, Kinder, Frauen und Alte haben stehen in starkem
Zusammenhang mit dem wohlhabenden Unternehmer in den USA. Der eine baut
die Bomben, die anderen bekommen sie. Die nordamerikanischen und britischen
Soldaten übernehmen liebenswürdigerweise die Rolle als Zusteller
und verbinden so diese auf der Landkarte so weit von einander entfernten
Punkte.
Wir müssen Bush, Blair und Aznar dafür danken, daß sie
das Ärgernis auf sich genommen zu haben, in dieser Zeit geboren zu
werden. Ohne Menschen wie sie wäre die moderne Geographie undenkbar.
Aber dieser Krieg richtet sich nicht gegen den Irak oder nicht nur gegen
den Irak. Er richtet sich gegen jede Absicht, gegenwärtig oder in
Zukunft, ungehorsam zu sein. Es ist ein Krieg gegen die Rebellion - und
damit gegen die Menschheit. Es ist ein in seinen Auswirkungen globaler
Krieg, vor allem auch im Nordwesten, von dem er ausgeht.
IV. Das Schicksal des Polifem
Der Krieg der tragikomischen Achse Bush-Blair-Aznar und
ihrer Zuarbeiter in den westlichen "Demokratien" erlebte schon
vor seinem Beginn seinen ersten Rückschlag. Man wollte uns weismachen,
der Irak befände sich im Mittleren Osten, doch das stimmt nicht.
Wie jedes halbwegs anständige Geographiebuch bestätigt, liegt
der Irak in Europa, in Nordamerika, in Australien, in Lateinamerika, in
den Bergen des mexikanischen Südostens, und in dem weltweiten rebellischen
"Nein", das eine neue Landkarte entwirft, wo Würde und
Stolz Haus und Fahne sind.
Die Demonstrationen rund um den Planeten zeigen uns - unter anderem -
daß sich dieser Krieg gegen die Menschheit richtet. Die Jugendlichen
haben verstanden, daß sich der Irak heute an jedem Punkt der Erde
befindet. Während andere den Atlas aufschlagen und beruhigt die Kilometer
zählen, die zwischen ihnen und Bagdad liegen, erkennen die Jugendlichen,
daß diese Bomben (die, die explodieren, ebenso wie die der Desinformation)
nicht nur irakisches Gebiet zerstören sollen, sondern das Recht darauf,
anders zu sein.
Wenn jemand "Nein" auf ein Gefängnis malt oder als Graffiti,
wenn er es auf ein Transparent schreibt oder in seiner Stimme trägt,
so sagt er damit nicht nur "Nein zum Krieg im Irak", sondern
"Nein zu diesem neuen babylonischen Turm", "Nein zur Vereinheitlichung",
"Nein zur Hegemonie".
Denn die rebellischen Jugendlichen verwenden das "Nein" als
Pinsel, den sie in der Hand und im Gesicht tragen, und mit dem sie die
neue Geographie schreiben und erahnen.
Wie Polifem, der Zyklop der griechischen Literatur, macht die Macht den
Haß auf das Andere zu ihrem einzigen Auge. In der Wirklichkeit ist
sie jedoch wesentlich stärker und erscheint unbesiegbar. Aber wie
Polifem wird auch die Macht durch ein Gespenst herausgefordert, das sich
"Niemand" nennt. Bezieht sich der Mächtige auf die anderen,
nennt er sie verachtungsvoll "niemand". Doch "niemand"
ist die Mehrheit auf diesem Planeten. Wenn das Geld die Welt als Turm
neu erschaffen möchte, der ihrer Überlegenheit huldigt, so träumt
auch dieses "Niemand", das dafür sorgt, daß sich
das Rad der Geschichte weiter dreht, von einer anderen Welt, aber einer
runden, die alle diese Unterschiedlichkeiten in Würde und Respekt
umfaßt.
Nicht zum Himmel strebt die Menschheit, sondern zur Erde. Und so zermürbt
"Niemand" die Grundmauern des neuen babylonischen Turms.
Denn die Erde muß rund sein, um sich zu drehen. Im Gegensatz zur
gegenwärtigen und zu vergangenen Welten wird die Entstehung dieser
Welt, die es noch zu erschaffen gilt, mehreren Göttern zugesprochen
werden. Sollte jemand fragen: "Wer hat diese Welt geschaffen?",
so wird die Antwort lauten: "Niemand".
Um diese Welt zu erahnen und mit ihrer Erschaffung zu beginnen, ist es
notwendig, weit in die Geographie der Zeit zu blicken. Von oben ist die
Sicht beschränkt und man irrt sich, wenn man einen Spiegel mit einem
Fernrohr verwechselt.
Die Menschen unten, "niemand", müssen sich nicht einmal
auf die Zehenspitzen stellen, um zu sehen, was kommen wird. Denn das Fernrohr
der Rebellen reicht kaum mehr als ein paar Meter. Es ist nichts weiter
als ein Kaleidoskop, in dem die Figuren und Farben, einige von ihnen Verbündete
des Lichts, keine Werkzeuge des Propheten sind, sondern einer Intuition:
Die Welt, die Geschichte, das Leben - sie alle werden Formen und Gestalten
haben, die wir noch nicht kennen, aber uns wünschen.
Mit seinem Kaleidoskop sieht der Rebell weiter als der Mächtige mit
dem Digitalfernrohr: Er sieht das Morgen.
Ja, die Rebellen durchschreiten die Nacht der Geschichte, doch sie tun
es, um zum Morgen zu gelangen. Die Schatten hindern sie nicht daran, schon
heute etwas zu tun, und darin steckt ihre Geographie.
Die Rebellen versuchen nicht, die Seiten zu korrigieren oder die Geschichte
neu zu schreiben, um die Worte oder die geographische Aufteilung zu verändern.
Sie suchen ganz einfach eine neue Landkarte, in der alle Worte Platz finden.
Eine Karte, bei der der Unterschied zwischen den Arten "Leben"
zu sagen nicht im Mund des Sprechers liegt, sondern in der Gesamtheit
all jener, die sich zu Wort melden.
Denn Musik wird nicht mit einer einzigen Note komponiert, und Tanz besteht
nicht darin, einen einzigen Schritt bis zur Erschöpfung zu wiederholen.
Und so wird der Friede nichts weniger sein als ein Konzert unendlich vieler
Worte und vieler Gesichter einer anderen Geographie.
aus dem Irak in den Bergen des mexikanischen Südostens
im Angesicht eines sich verdunkelnden Himmels voller Kampfflugzeuge und
Hubschrauber der "Operation Wachposten"
Subcomandante Insurgente Marcos
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