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EZLN: 20 & 10 -
das Feuer und das Wort
An alle, die es betrifft:
Es war gerade 1994, und der Kalender zeigte April. Es
war der Morgen des 18. Aprils, und in dem gleichen Brief, in dem ich über
das Cinderella-Syndrom berichtete (nachgedruckt in "Die 13. Stele"),
erschien folgendes: "Wie es sich so traf, wurde ich letzte Nacht
von einem Journalisten interviewt, und unter anderen Fragen über
Zedillo, Salinas, etcetera, kam auch eine, die mir alles erklärte:
Was halten Sie von diesem romantischen Abschnitt des Krieges? Ich drehte
mich um, um zu sehen ob er scherzte, aber nein, er war völlig ernst
und sah nach, ob das Band in seinem Rekorder lief. Romantisch?, dachte
ich. Dieser Journalist, zusammen mit anderen, hatte nun seit mehreren
Tagen eine der ärmsten Gemeinden in der Selva besucht, schlief unter
dem Dach einer alten Schule und aß Dosenfutter. Ein paar Meter von
seiner Schlafstelle entfernt, aß eine Familie nichts weiteres als
Bohnen und Tortillas (und jeden Morgen bot sich die Compañera von
der Unterstützungsbasis an, seine Wäsche zu waschen oder für
die "Compañeros aus der Stadt" Kaffee zu machen). Sie
hatten Tag und Nacht zapatistische Wachen, und wir schliefen nur einige
Meter von ihnen entfernt.
"Wenn für ihn, der alles aus der Nähe sieht,
das alles romantisch scheint," dachte ich mir, "wie muß
das erst jenen erscheinen, die weit entfernt sind???"
Ein paar Stunden nach der 'romantischen' Frage, und zusammen mit dem Nebel
eines Fiebers, der mich seit drei Tagen plagte, mußten wir Verteidigungsmaßnahmen
ergreifen, weil wir in den Nachrichten vom bewaffneten Angriff gegen den
militärischen Kontrollpunkt in Tuxtla erfahren hatten. Wir brachten
die wenigen Journalisten, die sich bei uns befanden, raus. Keinem gefiel
das. Tatschlich bemerkte ich eine wirkliche Verärgerung bei allen
Journalisten, jedes Mal wenn sie einen roten Alarm erleben mußten.
Es wirft sie aus dem Gleichgewicht, sie kommen sich vor, als ob sie grundlos
angegriffen würden. "Wieso-wenn-sowieso-nichts-passiert?-Dieser-verdammte-Marcos-will-uns-doch-nur-verarschen-und-mißhandelt-uns-etcetera".
Am Ende waren wir also wieder alleine, und wie es sich ergab, ziemlich
lange.
Sogar die scheinbar Engagiertesten gingen weg, 'für eine Weile',
obwohl wir ihnen erklärt hatten, daß es nützlich wäre,
wenn ständig jemand hier sei, weil Dinge passieren, die jemand sehen
sollte, etcetera. Aber ihnen wurde langweilig. Sie haben einen anderen
Zeitplan, und es amüsiert mich zu denken, daß sie verstehen
wollen, was hier geschieht, und lernen wollen, wie, weshalb, wann, wo
und wer, und das innerhalb von ein paar wenigen verzweifelten Tagen 'ohne-irgendwas-zu-tun-aber-andererseits-sollte-ich-mir-um-Dinge-Gedanken-machen-die-mindestens-genauso-wichtig-sind-wenn-nicht-noch-mehr".
Und was hast Du denn eigentlich auch erwartet, kleiner
Marcos? John Reed? Nein, aber irgendwas vergleichbares. Jemanden, mit
ausreichend Geduld, um sich den inneren Parteien zu nähern, nachdem
er die entmutigenden Klippen unseres Mißtrauens erklommen hätte.
Jemand, der keine so starken Bindungen nach draußen hätte,
oder der willens wäre, sie für längere Zeit zu durchschneiden.
Nein, nicht für immer. Jemand, der ohne aufzuhören Journalist
zu sein, mit den Zapatisten leben würde, mit uns.
Ich wußte, wenn ich das gesagt hätte, hätte sich mehr
als nur einer dazu bereit erklärt, aber sie hätten eine Reihe
von Tests bestehen müssen, die bis dahin kein einziger bestanden
hatte. Ich meinte, daß wir uns den richtigen würden aussuchen
müssen. Aber keiner blieb lange genug, um in die nähere Wahl
zu kommen. Kurzum, wie wir das hier sagen, "Motz-motz-motz".
Drei Jahre nachdem diese Zeilen geschrieben wurden, übersprang eine
Frau, eine Journalistin, nicht ohne Schwierigkeiten die komplizierte und
dicke Mauer des zapatistischen Skeptizismus, und sie blieb und lebte mit
den indigenen Gemeinden in Rebellion. Von dieser Zeit an teilte sie mit
den Compañeros den Traum und die schlaflosen Nächte, die Freuden
und die Sorgen, die Nahrung und den Mangel, die Verfolgungen und die Ruhepausen,
die Tode und die Leben. Langsam lernten die Compañeros und Compañeras,
sie zu akzeptieren und sie als einen Teil ihres täglichen Lebens
anzunehmen.
Ich werde hier nicht ihre Geschichte erzählen. Unter anderem deshalb,
weil sie es vorgezogen hat, die Geschichte einer Bewegung zu erzählen,
der zapatistischen, und nicht ihre eigene. Der Name dieser Person ist
Gloria Muñoz Ramírez. Von 1994 bis 1996 arbeitete sie für
die mexikanische Zeitung "Punto", für die deutsche Nachrichtenagentur
DPA, für die Nordamerikanische Zeitung "La Opinión"
und für die mexikanische Tageszeitung "La Jornada". Am
Morgen des 9. Februar 1995 machte sie gemeinsam mit Hermann Bellinghausen
das, was damals das letzte Interview mit Subcomandante Insurgente Marcos
hätte sein können. 1997 ließ sie ihre Arbeit, ihre Familie
und ihre Freunde zurück (und andere Dinge, von denen nur sie weiß)
und kam, um in den zapatistischen Gemeinden zu leben. In diesen sieben
Jahren publizierte sie nichts, aber sie schrieb weiter, und sie gab ihren
journalistischen Eifer nicht auf. Sie war natürlich keine Journalistin
mehr, oder nicht mehr nur Journalistin. Gloria lernte eine neue Art des
Sehens, die weit entfernt ist von der Verblendung, die durch die Scheinwerfer
entsteht, dem Pandämonium der Tribünen, dem Gedränge hinter
den Nachrichtenschlagzeilen, dem Kampf ums Exklusive. Die Art des Sehens,
die man in den Bergen des mexikanischen Südostens lernt.
Mit der Geduld einer Kunststickerin setzte sie Fragmente
aus der inneren und äußeren Realität des Zapatismus zusammen,
aus diesen nunmehr 10 Jahren des öffentlichen Lebens der EZLN. Wir
wußten es nicht. Erst bei der Ankündigung der Geburt des Caracoles
und der Gründung der Juntas der Guten Regierung erhielten wir einen
Brief von ihr, der uns diese Stickerei aus Worten, Daten und Erinnerungen
vorstellte, und sie der EZLN zur Verfügung stellte.
Wir lasen das Buch, das damals noch kein Buch war, sondern eher ein großer,
vielfarbiger Gobelin, dessen Vision uns erheblich dabei half, die komplizierte
Silhouette des Zapatismus von 1994 bis 2003 zu zeichnen, die 10 Jahren
öffentlichen Lebens der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung.
Also liebten wir es. Wir kennen kein anderes Material, das mit so viel
Aufmerksamkeit fürs Detail veröffentlicht worden wäre und
so vollständig ist.
Wir antworteten Gloria so, wie wir immer antworten, also mit einem "Hmm,
und?" Gloria schrieb uns zurück, und sie sprach über den
doppelten Jahrestag (20 Jahre EZLN, und 10 Jahre seit Beginn des Krieges
gegen das Vergessen), über den neuen Abschnitt, der mit der Schaffung
der Caracoles und der Juntas der Guten Regierung begonnen hatte, irgendwas
über Festlichkeiten, die von der "Revista Rebeldía"
geplant wären, und ich weiß nicht mehr, was noch alles. Bei
so viel Geplapper war eins klar: Gloria schlug vor, das Buch zu publizieren,
damit die jungen Leute von heute mehr über den Zapatismus lernen
könnten. "Die jungen Leute von heute?" wunderte ich mich,
und fragte Major Moisés: "Sind wir nicht die jungen Leute
von heute?". "Sind wir das?" fragte Major Moisés
zurück ohne aufzuhören, sein Pferd zu satteln, während
ich weiterhin meinen Rollstuhl einölte und den Umstand verfluchte,
daß der Sanitätskasten kein Viagra enthielt.
Wo war ich? Oh ja, das Buch, das noch kein Buch war. Gloria
wartete nicht darauf, daß wir ja sagten oder wer weiß oder
- typisch zapatistisch - gar nicht erst antworteten. Im Gegenteil, Gloria
fügte dem Gobelin oder dem Rohentwurf des Buches, das noch kein Buch
war, ein Gesuch bei, das Material durch Interviews zu vervollständigen.
Ich ging zum Komitee, und breitete den Gobelin (den Rohentwurf des Buches)
auf dem schlammigen Septemberboden aus. Sie sahen. Ich meine, die Compañeros
sahen sich selbst. Der Gobelin war gleichzeitig auch ein Spiegel. Sie
sagten nichts, aber ich verstand, daß es mehr Menschen geben würde,
viel mehr Menschen, die auch sehen und sich selbst sehen könnten.
Wir antworteten Gloria: "Mach weiter!" Das war im August oder
September dieses Jahres (2003), ich erinnere mich nicht mehr genau, aber
es war nach der Fiesta der Caracoles. Ich weiß noch, daß es
stark regnete, daß ich einen Hügel hinaufmarschierte und mit
jedem Schritt Sisyphus' Fluch wiederholte, und daß Monarca entschlossen
war, daß wir ein Remix von "La del Moño Colorado"
für Radio Insurgente ("Die Stimme der Stimmlosen") machen
sollten. Als ich mich umdrehte um Monarca zu sagen, daß das nur
über meine Leiche gehen würde, rutschte ich zum x-ten Male aus,
und dann fiel ich auch noch auf einen Haufen scharfer Steine und schnitt
mir das Bein auf.
Und während ich da lag und meine Wunden zählte, ging Monarca
einfach so über meine Leiche. An diesem Nachmittag sendeten wir eine
Version von "La del Moño Colorado" auf Radio Insurgente
("Die Stimme der Stimmlosen"), die den Anrufen der Zuhörer
nach zu urteilen ein voller Erfolg war. Ich seufzte, wie auch sonst? Das
Buch, das der/die Leser/in gerade in seinen oder ihren Händen hält,
ist dieser Gobelin-Spiegel, aber als Buch verkleidet. Man kann es nicht
an die Schranktür hängen, aber man kann sich ihm nähern
und uns und sich selbst suchen. Ich bin sicher, daß Sie uns finden,
und sich finden werden.
Das Buch "EZLN: 20 & 10, Das Feuer und das Wort" von Gloria
Muñoz Ramírez wurde durch das Bestreben zweier Kräfte
verlegt, durch die "Revista Rebeldía" und die mexikanische
Tageszeitung "La Jornada" unter Leitung von Carmen Lira. Hmm.
Noch eine Frau. Das Design stammt von Efraín Herrera, und die Illustrationen
von Antonio Ramírez und Domi. Hmm. Noch mehr Frauen. Die Fotoaufnahmen
sind von Adrian Meland, Ángeles Torrejón, Antonio Turok,
Araceli Herrera, Arturo Fuentes, Caros Cisneros, Carlos Ramos Mamahua,
Eduardo Verdugo, Eniac Martínez, Francisco Olvera, Frida Hartz,
Georges Bartoli, Heriberto Rodríguez, Jesús Ramírez,
José Carlo González, José Nuñez, Marco Antonio
Cruz, Patricia Aridjis, Pedro Valtierra, Simona Granati, Víctor
Mendiola und Yuriria Pantoja. Für die Fotoauswahl ist Yuriria Pantoja
verantwortlich, und Priscila Pacheco war für das Redigieren zuständig.
Hmm. Wieder Frauen. Wenn es dem Leser auffällt, daß die Frauen
in der Mehrheit sind, was soll ich dann tun - mich am Kopf kratzen und
sagen "nie im Leben"? So wie ich das verstehe (ich schreibe
dies aus der Ferne), besteht dieses Buch aus drei Teilen.
Ein Teil enthält Interviews mit Compañeros
der Unterstützungsbasen, Komitees und aufständischen Soldaten.
In den Interviews sprechen die Compañeros und Compañeras
über die 10 Jahre, die dem Aufstand vorangingen. Ich sollte sagen,
daß es sich hierbei nicht um ein globales Bild handelt, sondern
um Fetzen einer Erinnerung, die noch darauf warten muß, zusammengesetzt
und vorgestellt zu werden. Diese Stückchen helfen einem dennoch sehr
dabei zu verstehen, was als nächstes im zweiten Teil folgt. Er enthält
eine Art Kompaßlinse der öffentlichen Aktivitäten des
Zapatismus, vom Beginn des Krieges am Morgen dieses ersten Januars 1994
bis zur Geburt der Caracoles und der Gründung der Juntas der Guten
Regierung. Aus meiner Sicht ist es der vollständigste Bericht der
öffentlichen Aktivitäten der EZLN. Der Leser kann auf dieser
Reise vieles entdecken, aber etwas ganz besonders: die Prinzipientreue
einer Bewegung. Im dritten Teil erscheint ein Interview mit mir. Sie schickten
mir die Fragen in schriftlicher Form zu, und ich mußte vor einem
kleinen Kassettenrekorder antworten. Ich verwechselte immer die "Rückwärtstaste"
mit "Aufnahme", und so versuchte ich eine Einschätzung
der letzten 10 Jahren zu machen und auch noch über andere Dinge zu
reflektieren. Während ich alleine vor dem Kassettenrekorder antwortete,
regnete es draußen, und eine der Juntas der Guten Regierung entrichtete
gerade den Ruf der Unabhängigkeit. Es war der Morgen des 16. Septembers
2003. Ich denke, die drei Teile passen sehr gut zusammen. Nicht nur weil
sie von der gleichen Schreibfeder geschaffen wurden. Sondern auch weil
sie auf eine Art sehen, die einem dabei hilft zu sehen, uns zu sehen.
Ich bin mir sicher, daß - genau wie Gloria - viele Leute, indem
sie uns ansehen, sich selbst erblicken werden.
Vale. Salud und halten Sie in dem Gobelin nicht nach Käfern
Ausschau. Es ist durchaus möglich, daß Sie sie finden, und
dann, ja, schade um Sie.
aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Subcomandante Insurgente Marcos
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