Übergriffe in Zinancantán


Am Ostersamstag, den 10. April, wurde im Hochland von Chiapas in der Nähe von San Cristobal de las Casas eine friedliche Demonstration von etwa 4.000 Zapatisten mit Steinen, Schußwaffen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Die Bilanz des Hinterhalts waren insgesamt über zwanzig Verletzte, zwei von ihnen schweben in Lebensgefahr. Es war der schwerste Angriff auf die Anhänger des zapatistischen Befreiungsheers EZLN seit Jahren.

Die Demonstranten begingen nicht nur den 85. Jahrestag der Ermordung von General Emiliano Zapata im Jahr 1919, sie waren auch gekommen, um zapatistische Familien zu unterstützen, die aufgrund ihrer politischen Haltung seit Monaten von der Trinkwasserversorgung ihrer Gemeinde abgeschnitten sind. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich die DemonstrantInnen bereits auf dem Rückweg in ihre Dörfer.

Am Vormittag waren über 5000 Frauen und Männer, mit schwarzen Wollmützen vermummt, in einer Kolonne von ca. 200 Fahrzeugen vor das Rathaus der betreffenden Gemeinde, Zinacantán, gefahren, und hatten dort eine Erklärung verlesen. Darin forderten sie den Bürgermeister von Zinacantán und seine Anhänger auf, den zapatistischen Sympathisanten nicht aus parteipolitischen Gründen den Zugang zum lebensnotwendigen Nass zu verwehren.
Interessanterweise regiert in Zinacantán nicht die in Chiapas verhasste, langjährige Staatspartei PRI, sondern die Partei der Demokratischen Revolution, PRD, die allgemein dem linksliberalen Spektrum zugeordnet wird. Die PRD regiert seit 1997 die mexikanische Hauptstadt und ist derzeit in einen landesweiten Korruptionsskandal verwickelt. Die Einwohner von Zinacantán hatten die Machtdemonstration der tausenden Zapatisten, die Sprechchöre riefen, aber ihre Fahrzeuge nicht verliessen, überwiegend mit Sympathie aufgenommen.
Anschliessend war die Karawane weitergefahren nach Jechvó, eine der drei vom politischen Wassernotstand betroffenen, weitab gelegenen comunidades (zur Gemeinde gehörende Dörfer). Dort hatten die DemonstrantInnen auf dem Kirchplatz eine Rede gehalten und tausende Liter Wasser, in Plastikflaschen und Containern, an die BewohnerInnen verteilt.

Als die Fahrzeugkolonne sich auf den Rückweg machte, wurde ihr plötzlich von einer kleinen Gruppe Männer, offenbar Paramilitärs der PRD, mit einer Barrikade aus Felsbrocken der Weg abgeschnitten. Etwa eine dreiviertel Stunde verharrten die tausenden Zapatisten auf der Stelle und warteten ab, ob die Blockierer, bei denen auch zwei Streifenwagen der örtlichen Gemeindepolizei eingetroffen waren, sich eines Besseren besinnen würden.
Dann rückten sie vor und begannen, den Weg freizuräumen. Die PRD-Blockierer zogen sich zwar vom Weg zurück, begannen jedoch, die friedlich vorrückenden ZapatistInnen mit einem Steinhagel einzudecken. Die örtliche Polizei stellte, anstatt für Ruhe zu sorgen, ihre Fahrzeuge quer über die Strasse und zog sich gemeinsam mit den PRD-Leuten zurück. Die Polizeifahrzeuge wurden daraufhin von den vorrückenden Zapatisten vom Weg geräumt, demoliert und in einen Graben geworfen.
Die Zapatistinnen verteidigten sich gegen den Steinhagel, indem sie ebenfalls Steine warfen und ausschwärmten, um die Angreifer von hinten zu überraschen. Als etwa zwei Drittel der Kolonne die Konfliktstelle passiert hatten, ertönten die ersten Schüsse. Zum einen wurden die ZapatistInnen mit den hier typischen Osterböllern beworfen, zum anderen wurde aber auch scharf auf sie geschossen.

Während der hintere Teil des Zugs versuchte, angesichts dieser Eskalation mehr schlecht als recht hinter den Fahrzeugen Deckung zu finden, musste die Spitze der Kolonne noch weitere Hindernisse beseitigen, die ihr den Weg versperrten. So waren noch drei dicke Bäume gefällt und quer über die Strasse gelegt worden. Sie wurden von den EZLN-AnhängerInnen mithilfe von Motorsägen weggeräumt.
Als die Kolonne schliesslich die Einmündung auf die Panamericana erreichte, d.h. die Fernverkehrsstrasse, die San Cristobal und die chiapanekische Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez verbindet, wurde sie dort von mehreren Regierungsvertretern des Bundesstaates erwartet und von der politischen Polizei abgefilmt. Die ZapatistInnen ignorierten auch diese Provokation und kümmerten sich statt dessen um die Schwerverletzten, die vom Ende des Zuges nach vorn gebracht und so schnell wie möglich in diverse Krankenhäuser der Region transportiert wurden.

Unterdessen berichten lokale BeobachterInnen, dass die in Jechvó zurückgebliebenen zapatistischen BewohnerInnen einer akuten Bedrohung durch die Paramilitärs der PRD ausgesetzt sind. Sie sollen sich in einem Haus versammelt und verbarrikadiert haben, während die Angreifer das von der Karawane gelieferte Wasser auskippten und mehrere Häuser zerstörten. Die Landesregierung von Chiapas veröffentlichte noch am selben Tag eine Erklärung, in der sie die Gewalt verurteilte und ankündigte, man würde keine weiteren Vorkomnisse dulden.

Der Konflikt um die Wasserzufuhr in Zinacantán ist Teil einer "Strategie der Spannung" seitens der mexikanischen Armee und Teile der Regierung, welche sich in den letzten Wochen insbesondere in den Altos, der Region von und um San Cristóbal, manifestierte: In den autonomen Bezirken Lucio Cabañas, Miguel Hidalgo und 17 de Noviembre wurden mehrere Zapatistas verhaftet; nahe Oventik gab es zahlreiche Überfälle; in 16 de Febrero wurden zwei Zapatistas ermordet; in San Juan Cancúc sind zapatistische Familien von Vertreibung bedroht; in Chanal, Aldama, Santiago El Pinar und Magdalenas, alles ebenfalls Bezirke der Altos, sind vermehrte Aktivitäten der Bundesarmee unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung zu verzeichnen. Wie ein Mitarbeiter von CIEPAC meinte, sind diese Nadelstiche dazu da, um "das zapatistische Gebiet mit Verbrechen zu kontaminieren, welche es erlauben, die moralische Autorität der Zapatistas und ihrer "Räte der Guten Regierung" zu untergraben und auszuhöhlen."

Bisher konnte die gut organisierte zapatistische Basis der Region den Provokationen ausweichen oder den lokalen Machthabern ihre eigene Stärke entgegensetzen. Die Angriffe auf die wenigen zapatistischen Familien in Zinacantán sind ein weiteres Beispiel dafür, dass die zapatistische Basis an ihren angeblich oder tatsächlich schwächsten Punkten attackiert wird. Die zapatistische Solidarität aus zwanzig weiteren Bezirken des Hochlandes hat bisher die Vertreibung der Familien von Zinacantán verhindert. Doch die Ereignisse dieses Wochenendes verheissen nichts Gutes.

 

Augenzeugenbericht eines Menschenrechtsbeobachters
aus Deutschland:

"also vielleicht nur noch ein paar details dazu, und zwar war ich mitsamt meiner wg zufaellig bei der demo dabei, bei der ausser bellinghausen (der uns auch darueber informiert hatte) und noch 3 anderen keine weiteren teilnehmer der sociedad civil waren, da es schliesslich eher eine ueberraschungsaktion sein sollte. als die schiessereien losgingen wurde es uns echt anders und wir koennen bezeugen, dass sich die zapas auf keinerlei provokation/ aggression eingelassen haben. als es eindeutig gefaehrlich wurde, sind wir in einen wagen gefluechtet, in dem vor angst weinende frauen und kinder versteckt wurden, das war echt alles so unglaublich! irgendwie sind wir aus dem chaos rausgekommen, eingedeckt von steinen und schüssen, die aus beiden seiten des waldes kamen. gegen 19 uhr wurden wir in der naehe von san cris rausgelassen, komischerweise wurde nirgendwo polizei gesichtet. im gegenteil: ein polizeiwagen hatte vorher den weg versperrt so dass die karawane nicht weiterkam und zwischen stein-barrikaden der prd'ler und polizeipatrouille eingeschlossen war. die ganze nacht dann gab es unzaehlige gerüchte über tote und compas die festgehalten wurden. wir haben morgens noch wasser zum angeblichen versammlungsort gebracht, wo aber niemand mehr war. mehrere hunderte compas, die nicht mehr zurueck in ihre dörfer können, sind in einem zentrum hier in san cris untergebracht, es herrscht dringend bedarf an essen! heute dann hat eine kommission versch. orgas und unabh. einzelpersonen (wir waren so 20 bis 30) eine von der polizei (!!) begleitete karawane organisiert, um mehr informationen in den gemeinde zu sammeln. dort war allerdings alles extrem ruhig, erschreckend ruhig. die prd'ler hielten eine reunion ab, die von ca. 100 polizisten bewacht wurde, wir haben die zerstörten häuser der compas besucht und versucht herauszufinden, wohin sie geflohen sind. anscheindend ist das mittlerweile auch bekannt, man weiß aber noch nicht, wie's ihnen geht. es handelt sich dabei wohl um fast 70 familien aus jech boo, 25 aus ambo bajo und weitere 20 aus ambo alto."

 

Weiterer Bericht einer Menschenrechtsbeobachterin
aus San Cristóbal de las Casas:

"Der Fall Zinacantán ist nicht untypisch. Indigene Traditionen beinhalten gewisse cargos (unbezahlte Dienste an der Gemeinde) sowie cooperaciones (eine Art lokaler Steuern). Wir finden dieses sowohl innerhalb der zapatistischen Autonomie, als auch in anderen indigenen Gemeinden. Es ist eigentlich eine logische Form des Zusammenlebens. Oft wird es aber auch von lokalen Machthabern genutzt, um persönlich zu profitieren (Korruption und Kazikentum). Kaziken haben auf lokaler Ebene wirtschaftliche, politische, oft auch religiöse und militärische Macht. Oft kommt es zu Machtkämpfen untereinander, sie benutzen Religion und politische Parteien für persönliche Interessen. Zinacantán scheint ein Beispiel zu sein. Vor einem Jahr gab es Tote im Kampf zwischen den politischen Parteien PRD und PRI.
In den meisten Dörfern von Zinacantán leben verschiedene politische Gruppierungen. Wer den Zapatisten angehört, hat seine Regierung im Caracol Oventik. Alle anderen in der Kreisstadt Zinacantán. Die einen geben also ihre Dienste in Oventik, andere in Zinacantán. Auch wieder eine Situation die nicht untypisch ist. Die Zapatisten werden beschuldigt ihre Dienste nicht zu leisten. Sie verhandeln und sind bereit die Dienste zu leisten, welche direkt ihrem Dorf zugute kommt, aber keine Dienste in der Polizei, den Parteien und der Kreisstadt Zinacantán. Zur Strafe verweigern die zur Zeit in Zinacantán regierenden PRDler den Zapatisten den Zugang zum Wasser.
Am Ostersonntag bekam ich dann die Nachricht über Verletzte, Verschwundene und vielleicht auch Tote in Zinacantán. Bald versammelten sich viele Leute und überlegten gemeinsam was zu tun. Ich war Teil einer Delegation, die das betroffene Gebiet besuchte. In Jechvo fanden wir zerstörte Häuser und Wasserbehälter. Die Bewohner waren geflüchtet. Eine Frau, die in einem Haus versteckt war, kam mit uns, mit 5 Kindern und ein paar Habseligkeiten in Plastiktüten. Wir besuchten weitere Gemeinden und fanden verlassene Häuser. Nur hungrige Hühner und durstige Schafe, keine Menschen. Aus Angst waren sie geflüchtet."

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