Eine zarte und kluge Frau
mit der Kraft einer Bombe




Kommandantin Ramona hatte immer mehrere Aufgaben. Die wichtigste davon, so sagte sie, war es, "die Menschen aufzuwecken". Wer hätte gedacht, daß sie, die prototypische "unsichtbare" Indígena-Frau, eine der "Kleinsten" dieses Landes, die nicht zu existieren scheinen, einmal Protagonistin so machtvoller und unvergeßlicher Bilder für Mexiko und die Welt sein würde: In den Nebeln des ersten Interviews mit den zapatistischen Befehlshabern 1994; in der Kathedrale von San Cristóbal de las Casas, wo sie die Gesandten der Regierung Salinas das Schämen lehrte; in der Gemeinde La Realidad, als diese schon fast von der Bundesarmee eingenommen wurde, als das erste Mal eine Zapatistin nach Mexiko Stadt aufbrach: sie.

Aber das stärkste und zugleich paradoxeste jener Bilder ist vom 12. Oktober 1996. Die Tzotzil-Kommandantin, eine professionelle (und exzellente) Stickerin, kam in Mexiko Stadt an, abgeschirmt wie ein sehr wertvolles Wesen. Oder ein sehr gefährliches. All dieses Eisen auf dem Asphalt, das Polizeiaufgebot, die Kameras und Mikrofone, die Menge auf den Bürgersteigen, für eine Frau sehr kleinen Körperbaus, fast einsprachig und fast Analphabetin und zu alledem noch schwer krank.

Kann man sich ein gefährlicheres Wesen vorstellen? Die Regierung von Ernesto Zedillo war der Meinung, Ramona sei eine gefährliche Waffe. Und reagierte dementsprechend.

Warum? Diese Frau war nicht nur bei der subversiven Einnahme von San Cristóbal de las Casas durch die Indígenas der EZLN am 1. Januar 1994 dabei. Sie war auch eine Mitbegründerin der Rebellenarmee und eine der zivilen Befehlshaber, der höchsten Befehlsgewalt der EZLN. Und als sei das nicht genug, war sie auch eine der Initiatorinnen des Revolutionären Frauengesetzes, das damals von den Aufständischen bekannt gegeben wurde, nicht als fertige Tatsache, sondern als Kampfprogramm, das es zu erfüllen gilt.

Was unterscheidet ein solches Wesen von einer gefährlichen Bombe? Immer wenn Ramona außerhalb ihrer Gemeinden in ihrem San Andrés gesehen wurde, explodierte sie wie eine Bombe. Klug, zart, die Finger immer in Bewegung, immer mit einem Faden beschäftigt, selbst wenn sie sich ausruhte. Und die Brust leuchtend rot mit ihrem Huipil bekleidet.

Als ein Jahr seit der Unterzeichnung der Vereinbarungen von San Andrés vergangen war, gewährte Ramona im Februar 1997 der Tageszeitung La Jornada ein Interview in Mexiko Stadt, als sie sich von ihrer Lebertransplantation erholte. Damals sagte sie: "Wir Zapatistas wollen ein Mexiko, das sich verändert. Wenn Mexiko sich verändert, wird es eines Tages frei sein." Und fügte hinzu: "Wenn die Vereinbarungen nicht erfüllt werden sollten, werden sich die Indígenas weiter versammeln."

Am 10. Oktober 1996 war sie aus La Realidad aufgebrochen, eskortiert von Subcomandante Marcos, vor der aufgeregten Presse, den Abgeordneten und Senatoren der Cocopa, die als menschliche Schilde vor Ort waren, damit die Armee nicht in diese Tojolabal-Gemeinde einrückte, inmitten einer der schlimmsten Krisen dieses "Krieges auf dem Papier und im Internet" (so bezeichnete es ein Mitglied der Salinas-Regierung, der sich allerdings selbst für jemanden aus Fleisch und Blut hielt).

An jenem Tag befanden sich verschiedene Intellektuelle in La Realidad. Und die Nationalversammlung von El Barzón, enttäuscht darüber, daß die Zapatistas nicht Subcomandante Marcos nach Mexiko Stadt schickten, sondern eine unbedeutende Frau.

Nachdem sie den Zócalo mit ihr zujubelnden Menschen gefüllt hatte, bei der Gründung des Nationalen Indígena-Kongresses im Centro Médico Nacional dabei war, das Regime zum Zittern gebracht und den Tod im OP besiegt hatte, sagte Ramona überrascht, mit den Augen leuchtend wie schwarzes Feuer und der Stimme eines Vogels auf Tzotzil: "Ich weiß gar nicht, warum sie mich mögen."

Die Chicano-Musikgruppe Quetzal wurde mit dem Lied "Todos somos Ramona" (Wir alle sind Ramona) bekannt. Wenn es wirklich so wäre, daß wir alle Ramona sind, dann wäre diese Welt ein viel besserer Ort.


Hermann Bellinghausen