Aufstand in Oaxaca
Augenzeugenbericht


Das, was die Leute hier in Mexiko "guerra sucia" (Schmutziger Krieg) nennen, hat ein neues trauriges Kapitel erhalten: Am 11. August 2006 um ca. 19 Uhr wurde eine Demonstration des Volkes von Oaxaca von einer paramilitärischen Gruppe beschossen. Der 50jährige José Jiménez Colmenares wurde tödlich getroffen, zwei weitere Demonstranten wurden verletzt und befinden sich in ärztlicher Behandlung.

Der ermordete Mechaniker José Jiménez begleitete seine Ehefrau, welche Lehrerin ist und den Kampf zur Absetzung des korrupten Regierungschef Ulises Ruiz Ortiz, für die Demokratisierung Oaxacas, aktiv unterstützt und Aktivistin in der APPO (Asamblea Popular del Pueblo de Oaxaca) ist.

Zu dieser Demonstration wurde kurzfristig aufgerufen, weil am Tag zuvor der APPO-Aktivist Germán Mendoza Nube auf offener Strasse aus seinem Rollstuhl gerissen und entführt wurde und bisher verschwunden ist. Seither wurden mindestens sieben weitere APPO-Leute entführt und sind verschwunden. Es ist damit zu rechnen, dass diese umgebracht wurden, was die Liste der politisch motivierten Morde unter Ulises auf 43 erhöhen würde.

Als Augenzeuge der gestrigen Geschehnisse möchte ich hier protokollieren, was passiert ist. Ich will versuchen, möglichst faktisch zu bleiben, obwohl mir der Schrecken nach wie vor in den Knochen steckt, da ich den Angriff aus kurzer Distanz miterlebt habe.

Die Demonstration umfasste ungefähr 20.000 Leute und verlief ohne Probleme in gewaltloser Manier. Ziel der sieben Kilometer langen Route war der von Frauen besetzte, ehemalige staatliche Fernsehsender (Kanal 9). Kurz davor wurde aus einer Wohnung im ersten Stock auf Leute im letzten Viertel der Demonstration geschossen und zwar wiederholte Male. In den ersten Sekunden brach eine große Panik aus, doch schon nach kurzer Zeit beruhigten sich die Leute und versuchten, sich zu reorganisieren.

In den ersten Momenten der allgemeinen Panik war nicht überblickbar, was genau geschehen war, doch schon sehr schnell wurde klar, dass es Verletzte gegeben hat. Eine Ambulanz wurde gerufen, und ein Mann, vermeintlich bewusstlos, wurde in eine kleine Klinik, die sich unmittelbar am Ort der Geschehnisse befindet, getragen. Da konnte aber nur noch der Tod des Mannes festgestellt werden. Er starb unmittelbar am Ort, nachdem ihn eine Kugel ins Herz getroffen hatte. Zwei weitere Verletzte wurden mit einer Ambulanz weggefahren.

Die Täter versuchten zu flüchten und wurden von einigen Lehrern verfolgt. Zuerst war nicht klar, wie viele Heckenschützen beteiligt waren und wo sie sich befanden. Immer wieder sah man einzelne Männer auf den Dächern der umliegenden Häuser, insbesondere auf dem Dach der erwähnten Klinik. Immer wieder befürchteten wir, dass das Feuer wieder eröffnet werden könnte oder dass sich noch mehr Heckenschützen in der Umgebung auflauern. Etwa 100 Meter vom Geschehen befindet sich eine Kirche, wohin sich einige Frauen begaben und die Glocken läuteten, damit die Bevölkerung gewarnt ist. Vier der Täter wurden schlussendlich von den Lehrern verhaftet, zwei konnten aber flüchten.

Im Verlauf der Nacht wurde von der APPO bekannt gegeben, dass bei einem der Verhafteten eine Pistole mit leerem Magazin gefunden wurde. Es zeigte sich, dass die Heckenschützen aus einer "verdeckten" Wohnung aus operiert haben. Solche Wohnungen existieren im Moment viele. Einige sind bekannt und einige nicht, die Bevölkerung ist aufgerufen, solche Operationsbasen bei der APPO zu denunzieren. Im Parkhaus dieses Hauses befanden sich auch einige Autos ohne Nummerschilder.

Die Verhafteten wurden der "Fiscalía Especializada en Delitos contra el Magisterio" überstellt (einer speziell für den laufenden Konflikt eingesetzten Untersuchungsbehörde der Bundesregierung, die von der APPO akzeptiert wird). Die Chefin dieser Spezialbehörde gab bekannt, dass sie den Fall minutiös untersuchen und verfolgen werde, was alle mit gewissem Misstrauen aufgenommen haben.

Die APPO hat ihrerseits im "eigenen" Fernsehkanal und Radio eine Verlautbarung verlesen, um die Geschehnisse als weiteren Fall der kriminellen Machenschaften der Regierung Ulises Ruiz Ortiz zu denunzieren und die Bevölkerung aufzufordern, sich durch den Terror nicht einschüchtern zu lassen, weil genau dies die Absicht der Regierung sei. Die ganze Stadt war die ganze Nacht durch in Alarmbereitschaft, es wurden unzählige Feuer auf den Strassen gemacht um zu verhindern, dass mögliche Angreifer in der Dunkelheit operieren können.


Kommentar zur Medienberichterstattung

Was mich ein weiteres Mal beeindruckt ist, wie die offiziellen Medien über den Fall berichten. Ihre Berichte sind verdreht, gelogen oder im großem Maß desinformativ. Diese Berichte versuchen allesamt, die Schuld den Lehrern zuzuschieben und diese Unterschwellig für die kritische Situation in Oaxaca verantwortlich zu machen.

Für alle hier Beteiligten nimmt dies langsam absurde Formen an. Wird ein Lehrer erschossen, so beschuldigen die Medien unterschwellig die anderen Lehrer, diese Tat begangen zu haben. Nie wird hinterfragt, dass eine funktionierende Regierung solche Verbrechen verhindern können müsste, dass eine Regierung die Polizei eigentlich kontrollieren müsste.

Hunderttausende Menschen hier in Oaxaca erleben zur Zeit, wie Geschehnisse, die sie selber miterlebt haben, später in den offiziellen Medien bis zur Unkenntlichkeit verdreht und manipuliert werden, die Menschen erleben, wie sie im Fernsehen plötzlich als Verbrecher dargestellt werden. Für eine Großmutter, die sich unter größten Anstrengungen zu einer friedfertigen Demonstration begibt und sich nachher als verantwortlich für einen Mord hingestellt sieht, ist das erschütternd wie lehrreich zugleich.

Genau darum genießt das besetzte Fernsehen der APPO und das "Radio Universität" noch nie da gewesene Einschaltquoten. Die offiziellen Medien haben bei der Mehrheit der Leute jegliche Kreditwürdigkeit eingebüsst, was bei diesen aber nach wie vor zu keiner "neutraleren" Berichterstattung geführt hat. Das kommt daher, dass Oaxaca im nationalen Maßstab für die aktuelle Politik Mexikos weniger als unwichtig ist. Wichtig für diese Medien ist, wie sie den Wahlbetrug der Präsidentschaftswahlen zurechtbiegen können und dem Kandidaten der politischen Rechten zu einem vermeintlich legalen Sieg verhelfen können.