Menschenrechtsorganisationen klagen an
Am 21. Dezember waren sie alle da: die Überlebenden und die Angehörigen der Toten, Menschenrechts- und indigene Organisationen, über Tausend Menschen aus ganz Mexiko und anderen Teilen der Welt, der amtierende Bischof und die ehemaligen Bischöfe Raúl Vera und Samuel Ruiz. Ein Chor sang, ein traditionelles Orchester spielte. Schon Monate zuvor hatte die indigene Organisation Las Abejas (Die Bienen) angekündigt, anlässlich des zehnten Jahrestags des Massakers zu einem Nationalen Treffen gegen Straflosigkeit einzuladen. Zwei Tage diskutierten die TeilnehmerInnen schließlich in Acteal die aktuelle Situation der Menschenrechte in Mexiko, überlegten gemeinsam, wie Menschenrechtsverletzungen bekannt gemacht werden können. Das Massaker von Acteal war trauriger Höhepunkt einer von der mexikanischen Regierung seit 1995 umgesetzten Strategie der Aufstandsbekämpfung. Obwohl deren zentrales Ziel die Zermürbung der zivilen Unterstützungsbasis der EZLN war und ist, so waren doch immer auch AnhängerInnen oppositioneller Parteien und regierungsunabhängiger Organisationen von der Repression betroffen. Häufig spielen dabei wohl ein geringes Ansehen in der Gemeinde sowie ökonomische Faktoren eine Rolle für ihre Entscheidung. Zunächst wurde die Aufstandsbekämpfung ab 1995 in Norden von Chiapas angewandt. Im Hochland des Bundesstaats wurde 1996 mit dem Aufbau paramilitärischer Gruppen begonnen; ab diesem Zeitpunkt nahmen die Konflikte zwischen regierungstreuen auf der einen und oppositionellen und zapatistischen Indígenas auf der anderen Seite zu. In den Monaten vor dem Massaker provozierten AnhängerInnen der damaligen Regierungspartei Institutionelle Revolutionäre Partei PRI mehrere Zusammenstöße mit den ZapatistInnen, bei denen vor allem Letztere mehrere Tote zu beklagen hatten. Wenige Tage vor dem 22. Dezember fanden mehrere Treffen von Paramilitärs in Nachbardörfern von Acteal statt. Auf diesen Treffen wurde der Überfall geplant. Die Paramilitärs kesselten dann die Gemeinde von allen Seiten ein und metzelten die Opfer mit Schusswaffen und Macheten nieder. Die höheren Ebenen der Regierung, die Ende 1997 im Amt war, sind von den Prozessen nicht betroffen. Doch die Angehörigen der Opfer und die Organisationen, die sie unterstützen, sind überzeugt, dass sowohl der damalige mexikanische Präsident Zedillo, sein Innenminister und Verteidigungsminister sowie der damals amtierende Gouverneur von Chiapas, Julio César Ruiz Ferro, als die geistigen Urheber angeklagt und verurteilt werden müssten. Das Menschenrechtszentrum Frayba hat mehrfach betont, dass es sich bei dem Massaker wegen der Planung und des Tathergangs um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele und Zedillo als Oberbefehlshaber der Streitkräfte daher zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Im Oktober 2007 starteten verschiedene mexikanische Medien eine Kampagne, die die Ereignisse in Acteal in einer Weise darstellte, die die mexikanische Regierung von jeglicher Verantwortung freispricht. In der regierungsnahen Monatszeitschrift Nexos erschien eine dreiteilige Artikelserie mit dem Titel Regreso a Acteal ("Rückkehr nach Acteal"). Die These: Das Massaker von Acteal sei allein auf Konflikte zwischen dem Dorf und Nachbargemeinden zurückzuführen. Dabei wäre eine Diskussion über das bisher schlimmste Ergebnis der Aufstandsbekämpfung in Chiapas derzeit dringend angebracht. Denn ein Jahrzehnt nach dem Massaker mehren sich die Zeichen, die auf eine erneute heiße Phase des "Kriegs niederer Intensität" hindeuten. Um den Jahreswechsel waren ein zapatistisches Dorf und das erste zapatistische Naturschutzreservat nahe San Cristóbal von gewaltsamer Räumung bedroht. Besonders unter Druck steht derzeit die Gemeinde Bolon Ajaw nahe den Wasserfällen von Agua Azul; die Mitglieder der paramilitärisch strukturierten Organisation zur Verteidigung der Rechte der Indígenas und Bauern OPDDIC haben schon häufiger den dort lebenden ZapatistInnen aufgelauert und mehrere von ihnen schwer verletzt. Ob dies wirklich eintritt, wird sich zeigen. Im Moment sollten die mexikanische und die internationale Öffentlichkeit jedenfalls wieder verstärkt die Augen auf den Südosten Mexikos richten. Thomas Zapf |